3: Frau Funzel-Reinmann
Zwei Drittel des Schultages waren schon vorbei. Der Mathematik-Unterricht, der Musik-Unterricht, der Biologie-Unterricht und der Geografie-Unterricht waren überstanden, ohne dass einem Lehrer Niemands Existenz und Anwesenheit aufgefallen war.
Jetzt gingen die Kinder (unter anderem auch Niemand) zum Deutsch-Unterricht. Die Deutschlehrerin war Frau Funzel-Reinmann. Sie war bei den Schülern schon berühmt-berüchtigt für ihre Strenge und die Schüler hatten nicht gern mit ihr Unterricht. Als sie ihr ernstes, schon etwas faltiges, charakteristisches Gesicht mit dem weit hinten liegenden Dutt, der ihr eine starke Strenge verlieh, und der geometrischen, blassen Nase mit dem langen Nasenrücken und den kleinen Nasenflügeln, sahen, ging ein leises Raunen durch den Raum.
Niemand war schon so lange nicht mehr in der Schule gewesen, dass er schon nicht mehr wusste, ob Anastasia auch in seiner Klasse war. Sicher war er sich jedenfalls, ihr Gesicht auf jeden Fall schon einmal irgendwann in der Schule gesehen zu haben.
Da! Da war sie! Er erkannte ihre blonden Locken, ihr blasses, geschminktes, russisches Gesicht, ihren roten Mund, ihr rotes Kleid und ihre eisblauen Augen sofort.
Sie war eindeutig in seiner Klasse. Niemand keuchte.
Als Anastasia sah, dass er sie beobachtete, lächelte sie wieder ihr grausames Lächeln, um ihn zu erschrecken. Offenbar hatte sie gerade etwas geheimes gemacht oder an etwas geheimes gedacht, und wollte nicht belästigt werden.
Niemand wendete seinen Blick ab und hörte Frau Funzel-Reinmann zu, wie sie irgendetwas für ihn unverständliches von "Kasus", "Genus" und "Numerus" faselte. Niemand verstand diese Sprache nicht. Was Frau Funzel-Reinmann da für eine Sprache sprach, war zwar Deutsch, aber eben mit vielen lateinischen Begriffen, die Niemand nicht kannte, mit perfekter Grammatik und vielen hochdeutschen Wörtern, die Niemand ebenfalls nicht bekannt waren. Und aussprechen konnte er sie schon gar nicht. Er redete allgemein ja nicht viel. Aber er war eben einer von den nicht so gesprächigen, die nicht ganz so gern redeten.
Plötzlich kam Baris mit seinem Freund Jaroslav (der übrigens Anastasias Bruder war) hineingetrampelt und stürzte sich auf Niemand. "Ah, Niemand!", schrie er. Anscheinend seine übliche Begrüßung.
Frau Funzel-Reinmann war offenbar so mit ihrem Kasus-Numerus-Genus-Nominativ-Genitiv-Dativ-Akkusativ-Singular-Plural-Maskulinum-Femininum-Neutrum-Gefasel beschäftigt, dass sie das laute Gebrüll von Baris nur halbwegs wahrnahm und nichts dagegen unternahm.
Baris und Jaroslav begannen, grundlos auf Niemand einzuhauen und machten sich laut und böse lachend über Niemands etwas anderes Aussehen lustig.
Wie gut, dass ich das schon gewohnt bin, dachte Niemand froh und wehrte sich.
Eine richtige Prügelei entstand. Dafür, dass Baris und Jaroslav viel größer, dicker, schwerer, böser und agressiver waren als Niemand, schlug er sich erstaunlich gut. Man konnte sogar schwer schätzen, wer den Kampf gewinnen würde.
Als Frau Funzel-Reinmann mit ihrem Gefasel fertig war, bemerkte sie Baris, Jaroslav und Niemand. "Baris! Jaroslav! Äh... Du! Kommt mal her!", rief sie mit ihrer dünnen, heiseren, quietschigen Stimme. Eine steile Zornesfalte bildete sich auf ihrer runzligen Stirn.
Baris und Jaroslav, die inzwischen schon einige blaue Flecken hatten, rasten sofort auf sie zu und logen, Niemand hätte die Prügelei angefangen und sie seien total unschuldig.
Frau Funzel-Reinmann ignorierte das Geschrei der beiden und holte Niemand. Als sie sein schmutziges, asiatisches Gesicht sah, fragte sie grimmig: "Wer bist du überhaupt? Dich hab ich hier in meiner Klasse noch nie gesehen!"
"Niemand", antwortete Niemand wahrheitsgemäß. Er kratzte sich an der Mütze.
"Also ganz ehrlich, ich verstehe keinen Spaß! Ich lasse mich von dir nicht hereinlegen! Wie heißt du?", schrie Frau Funzel-Reinmann mit vor Wut dunkelrot angelaufenem Kopf. Sie ballte ihre langen, faltigen, von sichtbaren blauen Adern durchzogenen Finger zu verkrampften Fäusten.
"Ich heiße Niemand", sagte Niemand. "Das ist mein Name. Also ich meine... Ja, äh, mein Name."
"Neeein!", rief Frau Funzel-Reinmann völlig außer sich. Ihr Kopf kochte nun vor Wut. "Du heißt nicht Niemand! Was ist dein Name, du... Niemand?!"
"Ich heiße Niemand", wiederholte Niemand. Er war von der Prügelei noch etwas benommen und war deshalb nicht in der Lage, zu begreifen, dass sein Name für andere Menschen irritierend und unverständlich war.
Frau Funzel-Reinmann schüttelte Niemand so heftig hin und her, dass sein benommener Zustand aufhörte und er sofort begriff. "Ach so, äh... Ich weiß nicht, wie ich eigentlich heiße. Alle nennen mich Niemand und deshalb bin ich Niemand."
"Dann versuch gefälligst herauszufinden, wie du in Wirklichkeit heißt!", schrie Frau Funzel-Reinmann mit quietschender, schriller, fast zittriger Stimme. "Das wird doch wohl ein Leichtes für dich sein! Brauchst doch einfach deine Eltern zu fragen, du lausiger Lümmel!"
"Das kann ich nicht, Frau Funzel-Reinmann", sagte Niemand. "Ich kann nicht herausfinden, wer ich bin."
Die Antwort befriedigte Frau Funzel-Reinmann zwar nicht, aber sie schien sich trotzdem zu beruhigen. Ihr Gesicht nahm an Röte ab und wurde stattdessen ernst, sauer und faltig. "Aha, und warum hast du deine Schule geschwänzt und dich unter meine Klasse gemischt, und zu allem Überfluss dann auch noch schamlos eine Prügelei angefangen?", fragte sie kritisch und verärgert.
Niemand senkte den Kopf. "Ich gehe auf keine Schule. Und wenn, dann manchmal auf diese." Alles, was er sagte, enstsprach exakt der Wahrheit.
Frau Funzel-Reinmann starrte ihn verdattert und verständnislos an. "Du, also das verstehe ich jetzt nicht. Warum gehst du denn auf keine Schule? Und dass du dich dann manchmal heimlich auf diese hier schleichst und Prügeleien anfängst, das finde ich auch überhaupt nicht okay. Echt nicht. Aber jetzt erklär mir mal, warum du denn nicht zur Schule gehst. Das ist echt total komisch und unverständlich und ehrlich gesagt auch echt illegal." Sie machte eine kleine Pause, dann fügte sie wütend schnaubend hinzu: "Meiner Meinung nach jedenfalls!"
Niemand seufzte. Diese Lehrerin hatte einen echt unangenehmen, ja, sogar unausstehlichen Charakter. "Ich weiß nicht", murmelte er. "Ich bin es halt nicht gewohnt, zur Schule zu gehen. Es gibt zwar in Deutschland eine Schulpflicht, aber irgendwie... Ich gehöre nicht richtig dazu. Und meine Eltern haben mir auch nie erzählt, dass ich irgendwann mal zur Schule muss. Aber damals hätte ich das sowieso nicht richtig verstanden. Und jetzt können sie es mir auch nicht mehr erzählen, ich weiß nicht mal, wo sie sind. Ich weiß gar nicht mal, wer sie sind oder ob sie noch leben oder wie sie heißen oder woher sie kommen. Ich gehe einfach nicht zur Schule, nur eben manchmal, wenn ich... wenn ich Lust hab. Dann gehe ich zu dieser, sie ist am meisten in der Nähe."
Frau Funzel-Reinmann starrte ihm mitleidslos mit ihrem unausstehlichen, glasigen Blick in die Augen. "Hm, und warum hast du die Prügelei angefangen?", fragte sie kritisch.
Niemand wich ihrem Blick aus, in dem er seinen senkte. "Ich habe die Prügelei nicht angefangen", sagte er leise. "Baris und Jaroslav haben plötzlich angefangen zu prügeln." Bei dem Wort Jaroslav zitterte sein Mund, denn Jaroslav war Anastasias Bruder! Er war Anastasias Bruder! Bestimmt nutzte Anastasia ihren dummen Bruder als Waffe, um Niemand zu schaden! Aber da er nun mal in ihrem Bann war und sich auch nie mehr aus ihm befreien konnte, war er unfähig, sich zu rächen.
"Zu recht!", sagte Frau Funzel-Reinmann mit einem schadenfrohen Grinsen, dass zu ihren schmalen, ein wenig faltigen Lippen geradezu teuflisch aussah. "Es geschieht dir völlig recht, dass die beiden dich verprügeln wollten!" Dann scheuchte sie ihn mit einer Handbewegung weg.
Niemand gehorchte brav und wollte schon hinausgehen, da fiel ihm die Frage ein: Würde er nun auf dieser Schule sein dürfen? Er blieb stehen. Er würde ungern umkehren und Frau Funzel-Reinmann fragen, doch er wollte es nun einmal wissen. So ging er, auf das Schlimmste gefasst, noch einmal zurück und fragte sie.
"Hm, schlecht und komisch ist es schon, dass du einfach unerlaubt nicht zur Schule gehst, aber...", sagte Frau Funzel-Reinmann grimmig. Dann, ganz plötzlich, grinste sie ihn wieder so grässlich an und schrie mit hoher Stimme: "Aber das ist dein Problem! Wir wollen dich auf dieser Schule nicht!" Sie reckte die geballte Faust empor und sah ihn voller Häme und Schadenfreude und Hass an.
Niemand trottete aus dem Schulgebäude. Doch kaum hatte er es verlassen, stellte sich Anastasia vor ihm auf und versperrte ihm den Weg.
Niemand blieb stehen. Er war zu müde, um etwas zu sagen. Also blieb er da vor ihr stehen und wartete darauf, dass sie ihn durchließ oder etwas sagte. Er achtete absichtlich darauf, ihr nicht in die Augen schauen, sonst würde er vielleicht wieder die Nixe in ihr sehen.
"Ich habe gehört, was Frau Funzel-Reinmann mit dir besprochen hat. Ich, ähm, habe sehr großes Mitleid mit dir", sagte Anastasia, lächelte ihr zuckersüßes gekünsteltes Lächeln und ließ ihn durch.
"Danke", murmelte Niemand, obwohl er sich nicht mal sicher war, ob sie das ernst gemeint hatte. Er bezweifelte es sogar und dachte eher das Gegenteil.
Niemand ging zur Mauer und legte sich, den Kopf auf der Trommel, darauf. Der Tag war zwar erst bis zur Hälfte vorbei, aber er war schon sehr müde. Er schlief ein.
Als Niemand aufwachte, war es Mittag. Niemand beschloss, über Anastasia nachzudenken. Eigentlich war sie für ihn ja nicht nützlich... Niemands Gehirn blockierte wieder seine Gedanken. Niemand versuchte krampfhaft, die Barriere in seinem Kopf zu durchbrechen und weiterzudenken. Also. Nochmal von vorn: Anastasia war für Niemand nicht von Nutzen. Sie war sogar... Niemand strengte sich extrem an... Schädlich. Niemand war so müde von der Anstrengung, dass er sich nicht mehr anstrengte, seine Gedanken im Kopf zu behalten und vergaß sie sofort wieder. Bald hatte er sich aber wieder erholt und dachte krampfhaft weiter: Er brauchte Anastasia nicht... ! Sie war... ... ... ! Niemand fiel das Wort nicht ein, aber er dachte weiter. Also: Er musste ihr und ihrer Kraft trotzen, denn sie war... nicht... gut. Er musste sich irgendwie aus ihrem Bann lösen und ihr trotzen. ... Nein. Er konnte es nicht. Sie war übermächtig. Wenn er versuchen würde, sich loszureißen, würde sie... ... ...
Die Nixe!
Plötzlich erschien Niemand in seinem Kopf wieder die Nixe! Sie sah noch schrecklicher aus als beim letzten Mal, als er sie in Anastasias Blick und in seinem Traum gesehen hatte. Sie hatte noch rötere und vollere Lippen, die von einem noch teuflischeren, herablassenderen und finstereren Lächeln umspielt wurden, noch schärfere Zähne - Diesmal klebten an ihren Zähnen sogar noch blutige Fleischstücke! - ihre Augen waren von noch eisigerem Blau, ihr Blick noch kälter und blitzender, ihr Nixenschwanz schimmerte noch silberner, er war sogar mit etwas sibirischem Frost bedeckt, ihr Gesicht war noch blasser und verführerischer, ihre Fingernägel waren richtige meterlange blutrote Krallen, an denen noch ein paar Fleischfetzen hingen, ihre Haare waren noch länger, lockiger und blonder... Und plötzlich verwandelte sich die schreckliche angsteinflößende Nixe aus dem eiskalten Wasser des Baikalsees in die schöne russische Anastasia aus Moskau. Ihre Haare wurden wieder etwas fettiger und ihre Locken künstlich aussehender, ihr Gesicht wurde wieder geschminkter, ihr Blick etwas gnädiger, ihre Fingernägel kürzer und glitzernder und ihr nackter Nixenkörper mit dem silbernen Schwanz verwandelte sich in ihr rotes schimmerndes Kleid, ihre Beine und ihre Füße in den schwarzen High-Heels. In dem Moment, wo sie sich in Anastasia verwandelte, beschloss Niemand plötzlich, Anastasia morgen direkt am Nachmittag zu besuchen.
Die Schule war offenbar vorbei, denn er sah gerade Baris und Jaroslav auf ihn zustürmen. Vielleicht würde er es ja noch heute schaffen, zu Anastasia zu gehen.
Baris und Jaroslav näherten sich ihm mit großer Geschwindigkeit und stürzten sich schließlich auf ihn drauf. Niemand war nicht darauf gefasst gewesen und sie waren zu schnell, sodass er sich nicht wehren konnte. Mit voller Wucht warfen Baris und Jaroslav Niemand in den See hinter seinem Rücken. In dem Moment, als er in dem See verschwand und glaubte, zu ertrinken, wurde er von einer Hand wieder nach oben gezerrt. Klitschnass und schlotternd kletterte er wieder auf seine Mauer und schüttelte sich. Er sah Baris und Jaroslav noch vor sich, wie sie ihn in die Tiefe des Sees stürzten. Baris mit seinen schwarzen Haaren, seinem dicken Kopf und seinem bösen Grinsen auf den Lippen und Jaroslav mit seinen dunkelblonden Haaren, seinem ebenfalls dicken Kopf und seinem brutalen Grinsen. Als er seine Augen wieder aufmachte und glaubte, Baris und Jaroslav direkt in die Augen sehen und ihrem grässlich bösartigen Blick standhalten zu müssen, stand statt den beiden vor ihm Anastasia. Unglaublich! Anastasia ist Jaroslavs Schwester!, dachte Niemand. Dabei sind sie so unterschiedlich! Er beschloss, jetzt direkt Anastasia zu besuchen. Also schüttelte er sich wie ein nasser Hund, nahm sich seine Trommel und stand auf. "Hallo", sagte er und merkte, dass er nicht viel mehr sagen konnte, da das Wasser so kalt war, dass er für kurze Zeit eine versagende Stimme hatte.
"Hallo", sagte Anastasia ebenfalls und lächelte. Dann fügte sie hinzu, als hätte sie seine Gedanken erraten: "Komm mit, wir gehen wieder zu meinem Haus."
Niemand wollte etwas sagen, aber er konnte nichts sagen. Er war immer noch ziemlich unterkühlt und vor allem klitschnass, obwohl er sich ja geschüttelt hatte.
Als er sich auf Anastasias Couch setzte und zweimal hintereinander nieste, kam ihm Anastasias Haus schon viel vertrauter vor.
Anastasia setzte sich bewusst zuckersüß lächelnd neben ihn und begann einfach so ohne Erlaubnis oder Wunsch von Niemand von ihrem Leben zu erzählen. Ob er ihr glauben konnte, wusste Niemand nicht, aber er glaubte ihr einfach trotzdem, das war viel einfacher für sein sowieso schon überfordertes Gehirn.
Anastasia fing bei ihrer Kindheit an. Sie erzählte, dass sie in Moskau geboren wurde und ihre Eltern sehr streng waren. Sie war ihrer Erzählung nach zusammen mit ihrem älteren Bruder das einzige Kind ihrer Eltern und nicht sehr reich. Ihre Mutter hatte sich offenbar vor allem äußerlich sehr verändert, denn sie erzählte, dass ihre Mutter zu Anfang sehr schön aussah, später aber schon eher die Form eines Kartoffelsacks angenommen hatte. Da Anastasia dieses Thema aber irgendwie nicht sehr mochte (vermutlich befürchtete sie insgeheim, auch einmal so enden zu können), wechselte sie es schnell und erzählte von... Na ja, ziemlich langweiligen Sachen, die sich Niemand alle nicht merken konnte und für ihn auch nicht gerade sehr glaubwürdig klangen.
Als Anastasia fertig war, drückte sie Niemand wieder dieses trübe süße Getränk in die Hand und wieder schmeckte es künstlich, zuckrig und seltsam. Aber der Nachgeschmack war sehr lecker, was Niemand beim letzten Mal noch gar nicht bemerkt hatte. Er wollte sogar noch mehr trinken, als er sein Glas ausgetrunken hatte, und wurde vielleicht sogar ein bisschen abhängig. Das Getränk schien ihm aber nicht so, als würde es Alkohol oder Koffein enthalten. Zum Gück, denn Niemand war ja (wahrscheinlich) noch nicht erwachsen! (Genau wausste er nicht, wie alt er war.) Trotzdem machte das trübe Getränk mit dem leckeren süßen Nachgeschmack Niemand abhängig. Niemand bemerkte, dass das Getränk offenbar zu seinem Glück auch keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen hervorrief oder zum Beispiel irgendwelche schadenden Nebenwirkungen hatte. Diese Feststellung freute Niemand sehr, denn er hatte schon im Hinterkopf halb befürchtet, dass Anastasia... dass Anastasia... Dass sie was beabsichtigte? ... ... ... Niemand hatte wieder so eine Blockade in seinem Gehirn. Verwirrt verabschiedete er sich knapp von Anastasia und ging aus ihrem Haus heraus, um noch einmal gründlich von vorne darüber nachzudenken. Was hatte er also gedacht... nein, befürchtet? ... ... ... Niemand wusste es irgendwie nicht mehr und beschloss, einfach zu seiner Mauer zu gehen und über den Besuch bei Anastasia nachzudenken.
Zuerst dachte er über Anastasia nach. Irgendwie hatte er gerade das Bild von der Nixe nicht mehr vor Augen und konnte sich Anastasia nicht mehr als Nixe vorstellen. Jetzt konnte er sie sich gerade nur so vorstellen, wie sie eben ausgesehen hatte. Blond, lockig, rot angezogen, geschminkt, blauäugig, lächelnd... Oh nein, ihm fiel das Nixenbild plötzlich wieder ein und er konnte sie sich wieder vorstellen! Ihre blutroten meterlangen Nixenkrallen, ihren silber glänzenden mit kaltem Frost bedeckten Nixenschwanz, ihre spitzen Nixenohren mit den großen blinkenden purpurroten Granatohrringen, ihre vollen hellroten Lippen, ihre langen blonden lockigen nassen Haare, ihre blutroten Augenlider, die halb über ihre eisblauen alles durchschauenden grausam schönen Augen gesenkt waren, ihre blutigen spitzen Zähne, ihre langen Wimpern, die alle Nixen haben, um ihre Opfer damit zu verführen, wenn sie damit klimpern... Niemand fielen alle diese Sachen gleichzeitig ein und ein eiskalter Schauer lief ihm den etwas gekrümmten Rücken hinunter, fast, als ob die Anastasia-Nixe ihn mit ihrer blutigen Klaue am Rücken berührt hatte und ihn nun ein kalter, frostiger Tropfen von dem Wasser vom Baikalsee hinunterlief und Niemand erschauern ließ. Aber die Anastasia-Nixe existierte nur in Niemands Gehirn; wenn er sie sah, sah sie immer anders aus, anders, wie die normale Anastasia. Die normale Anastasia mit ihren künstlicheren Locken und ihrem geschminkteren Gesicht und ihren kürzeren und weniger roten Fingernägeln und ihren High-Heels und... Niemand war nun aber wirklich zu müde, um weiterzudenken. Er legte sich hin und war schon bald darauf eingeschlafen. Allerdings schlief er nicht sehr friedlich und ungestört, denn der Schlaf, den er gerade schlief, war geplagt von einem ziemlich traumatischen Albtraum über Anastasia. Und er war trotzdem schrecklich, auch wenn er nicht von der grausamen Anastasia-Nixe träumte. Er war noch schrecklicher. Er kam Niemand nämlich furchtbar echt und realistisch vor und Anastasia war dort fast noch böser als die Nixe. Sie war noch grausamer und geheimnisvoller.
Anastasia stand in ihrer Wohnung mit der Couch und dem Tisch und den Getränken... Nein, ohne den Tisch mit den Getränken! Auf dem Sofa saß ein fremder Mann, der Niemand nicht bekannt vorkam. Jedenfalls sah er europäisch aus und war schon erwachsen oder schon fast erwachsen. Anastasia sah irgendwie anders aus, als sie normalerweise für Niemand aussah... Was war es bloß? Ah, sie trug ein blaues Kleid und kein rotes. War das überhaupt blau? Nein, nicht so wirklich. Es war blau, aber zugleich schimmerte es auch irgendwie silbern und weiß und dann auch noch irgendwie türkis. Und wenn es unter einer Lampe war, blitzte es manchmal kurz golden. Wahrscheinlich war es also ziemlich teuer, denn ein Kleid aus so einem besondern Stoff konnte sich bestimmt nicht jeder leisten (schon gar nicht Niemand). Der Mann war eindeutig in Anastasia verliebt... Eindeutig?!? Na ja, nicht so wirklich eindeutig. Er war eher... Er war... Na, wie Niemand eben. ...Genau, verführt. Anastasia hatte ihn auch verführt, den fremden europäischen Mann. Er war auch in Anastasias Bann gefangen. Anastasia tat so, als ob sie auch in den Mann verliebt wäre und setzte sich zu ihm auf das Sofa und schlug die Beine so erwachsen wie möglich übereinander. Der Mann sah übrigens ziemlich reich aus. Er trug nämlich ein Hemd und eine glatt gebügelte und sauber gewaschene Stoffhose - beides Sachen, die Niemand nicht einmal in einem Traum gehabt hätte. Der reiche Mann und Anastasia redeten und tranken das süße dickflüssige seltsame trübe Getränk, das Niemand so abhängig gemacht hatte. Es wurde Nacht und der reiche Europäer ging weg und verabschiedete sich von Anastasia. Am nächsten Tag kam er wieder und am übernächsten auch. Mit der Zeit begann er, Anastasia zu küssen, und jedes Mal, wenn er sie küsste, sah sie nicht sehr begeistert aus und konnte es nur mit letzter Kraft vermeiden, den Kopf angeekelt wegzudrehen, was der Mann aber offenbar nicht bemerkte, weil er nicht sonderlich schlau war. An einem Tag erwartete Anastasia ihn bei einem großen kalten See, der von Menschen aufgestaut worden war. Die beiden setzten sich auf die Mauer davor und tranken wieder das leckere trübe Getränk. Und dann... Dann stieß Anastasia den Mann ohne eine Vorwarnung einfach in die Tiefen des Sees hinab und er ertrank jämmerlich, ohne auch einen Heldentod zu sterben oder zumindest Anastasia zu verwünschen. Und tot war er. Anastasia ging zu der Wohnung, in der der Mann gelebt hatte, und klaute die wertvollsten Möbel. Und dann kam der nächste. Wieder ein reicher dummer. Diesmal war sein Todestag ein Treffen mit seiner ganzen Familie. Anastasia lauerte in der Küche. Der ahnungslose Mann betrat sie, schloss die Tür hinter sich und kam nie wieder heraus. Erst, als Anastasia, die sich an diesem Tag nicht hatte blicken lassen, ihn, schon als Leiche, achtlos in den See warf, in den sie den ersten geschubst hatte. Und gleich darauf kam der nächste und nach seinem Tod noch einer und nach dem Tod von diesem der nächste und der nächste und der nächste und dann... Dann gab es keinen mehr.
Niemand schrickte schweißüberströmt aus dem Schlaf, keuchte und erkannte, dass es nicht mehr weiterging, da jetzt er selbst dran war, er, Niemand, der bisher schlauste von allen. Ja, er war der schlauste. Auch wenn er nie (fast nie) zur Schule gegangen war (und auch nie wieder gehen würde) und nicht wie die anderen pausenlos gebüffelt hatte und ohne Pause gelernt und gelernt und (vielleicht) auch nichts anderes als Lernen zu tun gehabt hatte. Nein, das hatte er nicht, aber er war trotzdem der schlauste. Denn er hatte gemerkt, dass er Anastasia nicht von sich aus und von ganzem Herzen liebte, sondern dass sie ihn einfach gnadenlos verführt und in ihrem Bann gefangen hatte.
^^!
AntwortenLöschen