2: Anastasia

Als Niemand am nächsten Morgen aufwachte, merkte er, dass es sehr kühl und windig war. Heute würde ihm bestimmt keiner etwas zuwerfen. Er setzte sich auf und begann zu trommeln.
Sein schwarzes Haar war noch zerstrubbelt, und Niemand versuchte nicht, diese Tatsache mit Hilfe der Mütze zu verbergen. Er war noch ein wenig verschlafen. Mit der einen Hand schlug er auf die Trommel, mit der anderen wischte er sich den Schlaf aus den Augen. Dann ließ er seinen Blick über den großen See, auf dessen Mauer er saß, schweifen. Beobachtete, wie die Baumkronen sich im Wind bewegten und eine Stockente sich auf den durch den Wind entstandenen kleinen Wellen treiben ließ, ohne ein wirkliches Ziel zu haben.

Der Vormittag verging, wie Niemand es geahnt hatte: Die vorbeigehenden Menschen hatten es eilig und liefen mit großen, hastigen Schritten an ihm vorbei.
Um die Mittagszeit wurde es wärmer, doch die Leute waren alle zu Hause beim Essen.
Während Niemand über all das nachdachte, merkte er, wie sein Magen einen knurrenden Laut von sich gab - und gleich darauf machte sich ein leeres Gefühl in seinem Bauch breit.
Niemand konzentrierte sich auf die Geräusche, die sein Körper produzierte. Er atmete bewusst und beobachtete, wie sich seine Bauchdecke hob und senkte. Dann lauschte er nach seinem Herzschlag. Das Trommeln seiner Hände passte sich der Geschwindigkeit des Herzschlags an und er klopfte schneller auf die kleine altmodische Trommel.

Am Abend zog Nebel auf. Niemand konnte die Umrisse der Häuser nur noch grob erkennen, schon bald verschwammen sie entgültig vor seinen Augen und wurden in die graue, herumwabernde Konsistenz gehüllt.
Niemand strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht und kratzte sich am Kopf. Er fühlte sich allein. Es würde ihn heute bestimmt kein Mensch sehen, und schon überhaupt würde ihm keiner etwas geben. Doch da war sich Niemand gar nicht mehr so sicher, denn eine rote Gestalt kam auf ihn zu. Als sie näherkam, merkte er, dass es eine Frau war... oder eher eine Teenagerin, die genauso alt war wie er.
Unwillkürlich schlug sein Herz schneller, und auch sein Atem beschleunigte sich. Niemand freute sich, das spürte er. Er sah der Teenagerin an, dass er ihr Ziel war. Sie näherte sich ihm und er betrachtete sie genauer. Die Fremde war blond und trug ein rotes Kleid. Als sie nah genug war, griff sie in ihre Tasche. Sein Blick fiel auf ihre Hände, und sofort bemerkte er ihren aufblitzenden roten Nagellack. Sie kramte eine Weile und musterte ihn dabei mit einer Mischung aus Neugier, Missbilligung und Verachtung in den Augen. Dann zog sie eine sauber polierte, kleine Münze aus der Handtasche heraus und legte sie in seine geöffnete Hand. Dann zog sie ihre eigene Hand schnell wieder weg, als würde sie seine so schmutzig finden, dass sie eine Berührung auf keinen Fall riskieren könnte. Dabei lächelte sie ein Lächeln, das schön, aber nicht freundlich war, denn es war kein echtes Lächeln.
Und Niemand konnte nicht anders, seine schmalen, blassen Lippen zogen sich ebenfalls nach oben und er war sich sicher, dass sein eigenes Lächeln doppelt so viel Freundlichkeit und halb so viel Schönheit ausstrahlte wie ihres.
Die blonde Fremde strich sich übers sanft gewellte Haar, dann glättete sie mit spitzen Fingern eine Falte ihres roten Kleids und wieder blitzten ihre auffällig lackierten Fingernägel rot und glitzernd auf. Sie öffnete leicht ihren wohlgeformten, runden, geschminkten Mund - und ein Ton, der kein Buchstabe, kein Wort, einfach nur ein Ton war, kam heraus.
Niemand war fasziniert und er konnte seinen Blick nicht mehr von dieser geheimnissvollen jungen Frau im engen roten Kleid abwenden.
Sie schlug die Lider nieder und war bereit, zu gehen. Niemands Blick entging ihr ordentlich aufgetragener roter Lidschatten nicht.
Plötzlich drehte sich die Blonde um, so schnell, dass Niemand es erst nicht begriff. Und sie stöckelte davon.
Der Nebel löste sich langsam auf.

Als die Teenagerin gegangen war, verschwamm alles in Niemands Kopf und er konnte nicht mehr klar denken.
Was war geschehen?
Er versuchte, seine Gedanken wieder in Ordnung zu bringen, aber er verwirrte sie nur noch mehr. Er trommelte wild auf seiner Trommel herum.
Plötzlich explodierten die verschwommenen Gedanken in Niemands Kopf und fügten sich zu einem zusammen: Er war in die Teenagerin verliebt. Ab dem Moment, wo er sie sah. Wo er ihr Parfüm roch, wo er ihren Atem hörte und wo er realisierte, dass sie auf ihn zukam.
Aber... Konnte das sein?
War er wirklich in sie verliebt?
Irgendwie war es ein bisschen anders. Und plötzlich wurde ihm klar, was passiert war: Die Teenagerin mit dem engen roten Kleid hatte Niemand verführt! Sie hatte es gewollt. Sie hatte im die Münze gegeben, um ihn verführen zu können. Es war so ein seltsames Gefühl. Er versuchte krampfhaft, wieder normal zu werden, doch er war schon in ihrem Bann gefangen und konnte sich nicht mehr befreien.
Er wollte zu ihr. Sein Drang war stark.
Sie hatte es gewollt.
Er konnte nicht anders.
Jetzt, wo sie weg war und auch der Nebel sich aufgelöst hatte, sog er die vom Wind frisch geblasene Luft tief ein und konnte sie dennoch nicht wirklich wahrnehmen und genießen. Es lag nicht ein winziger Hauch von ihrem Parfüm in der Luft, und deshalb war ihm komisch zumute.
Auf einmal war Niemand verzweifelt und verwirrt. Er wollte nur noch eins: Sie. Aber eigentlich wollte er es nicht. Er musste, so fühlte es sich an.
Niemand stand auf, schnappte sich seine Trommel und rannte der Teenagerin hinterher. Er war froh, dass der Nebel weg war, denn so konnte er sie sehen, ob er sie eingeholt hatte und überhaupt wo sie war.
"Wie heißt du?", fragte er. Diese Wörter hatte Niemand gesagt, ganz ohne darüber nachzudenken. Es war, als hätte er sie sozusagen 'künstlich' gesagt.
Sie drehte sich zu ihm um und in ihren eisblauen Augen lag ein vergnügtes Blitzen. Doch sie zeigte nicht ihre wahren Gefühle, das spürte er. Sie musterte ihn und als sie ihn ziemlich lange angeschaut hatte, lag in dem Blau ihrer von schwarzen, verstärkten Wimpern umrahmten Augen eine Kälte und Fremdartigkeit, die er noch nie zuvor erlebt hatte. "Anastasia", sagte die Teenagerin knapp. Sie schien nicht besonders gesprächig zu sein.
Niemand wollte sagen: "Ich bin Niemand", aber er zögerte damit. Sein Name war kein Name, und merkwürdig war sein Name erst recht. Doch schließlich konnte er nicht anders, und seine Lippen formten ohne Zustimmung seines Gehirns bereits den Satz.
Anastasia machte ein fragendes Gesicht. Sie blieb eine Weile vor ihm stehen. "Ach", machte sie dann und ging weiter.
Niemand folgte ihr und versuchte, zu antworten, damit aus der wortkargen Unterhaltung vielleicht doch noch ein wirkliches Gespräch entstand. Doch alles, was er hervorbrachte, war der Ausruf: "Warte! Anastasia!" Das rief er, wieder ganz ohne darüber nachzudenken. 
Anastasia lief ungnädig weiter. Sie schien ihn nicht zu verstehen oder jedenfalls tat sie so.
Niemand konnte ihr kaum folgen, da er es nicht gewohnt war, lange hinter jemandem herzulaufen.
"Willst du mir folgen?", fragte Anastasia im Gehen. Niemand hörte bei jedem Schritt die Absätze ihrer Stöckelschuhe klappern.
"Ja." Seine Stimme war tief, leise, kratzig und rau. 
Anastasia hielt nicht an, aber zumindest wurde sie langsamer. Sie schaute über die Schulter zu ihm und ihr Blick wanderte hinunter zu ihm. Sie war größer als er.
Weil Niemand dringend eine Reaktion auf seine Antwort erwartete, wisperte sie: "Du kannst mir folgen, aber du wirst nirgendwo ankommen."
"Warum nicht?"
"Weil ich nirgendwohin laufe."
"Hast du kein Ziel?"
Anastasia hielt an. Mit halb geschlossenen Augen betrachtete sie ihre Handtasche, die offenbar teuer gewesen war. Ihr Lidschatten zog Niemands Blick wie magisch an. Sie lächelte ihr unechtes Lächeln und schüttelte den Kopf. Dann schloss sie die Augen... Wahrscheinlich, um den Lidschatten noch mehr auszuprägen. "Zeig mir einen Ort." Ihre Stimme hallte in seinem Kopf lange wieder. Sie öffnete die Augen.
Er lief voran und kam schließlich zu einem kleinen Berg. Sie wusste anscheinend nicht, dass er nur selten unterwegs war und seine Umgebung selbst noch erforschen musste. Meistens saß er ja auf der Mauer, er erkundete nicht die Gegend. Gefolgt von Anastasia erklomm er den kleinen Berg und stieg bis zur Spitze. Eigentlich war der Berg nicht sein Ziel gewesen, aber jetzt, wo er ihn kannte, fühlte er sich wohl. Hoch oben. Alles andere unter ihm. Er konnte den Blick über den Stadtteil schweifen lassen. Schön sah das, was unter ihnen lag, aus. Viele Häuser waren noch hell erleuchtet, aus Fenstern und offenen Türen kam gelbes Licht. Die Nacht war schwarz, doch die Häuser und der Sichelmond brachten Licht. Von oben sah der See schöner aus als von der Nähe.
Anastasia setzte sich auf einen großen Stein auf der Spitze. Sie überschlug die Beine, zog die Stöckelschuhe aus und legte die teure Handtasche auf ihren Schoß. Ihr Körper war sehr entwickelt und hatte eine gute Form.
Niemand kraxelte wieder einen Meter nach unten und setzte sich auf eine kleine ebene Fläche. Von hier aus konnte er gut zu Anastasia heraufschauen und sie betrachten. Wie er so auf dem harten Gestein saß, die Hände auf seine Trommel legte und zu ihr emporblickte, merkte er, wie sie es genoss, über ihm zu sitzen und für ihn unerreichbar zu sein, solange er nicht aufstand. Er traute sich nicht, etwas zu sagen, und so streckte er nur die Arme nach Anastasia aus, doch ihr unbarmherziges Lächeln und ihr abschätziger Blick ließen seine Arme zurück auf die Trommel fallen.
Niemand sah von seiner Trommel zum Boden und vom Boden zu Anastasia. Er war fasziniert von ihr - von ihrer Schönheit, von ihrer Kälte und Ungnädigkeit, von ihrem Lächeln, von ihrer Macht, von ihrer Unerreichbarkeit.
"Das hat keinen Sinn, Niemand", sagte sie plötzlich. "Gehen wir doch zurück."
Niemands Gehirn verarbeitete diese Worte, und plötzlich war er sich gar nicht mehr sicher, ob sie das wirklich gesagt hatte oder er sich nur eingebildet hatte, dass sie das gesagt hatte. Er sah ratlos zu ihr hinauf und wartete. Anstasias auffordernder Blick bestätigte, dass sie nicht mehr auf dem Berg sitzen wollte und er hinuntersteigen sollte.
Niemand kraxelte den Berg hinunter.
Anastasia folgte ihm leichtfüßig.
Unten angekommen sagte sie: "Komm mit, wir gehen zu mir nach Hause. Zurück zur Mauer kannst du nicht mehr, es ist zu spät..." Sie blickte ihn lange an. "Eine Mauer. Sehr schmuddeliger Schlafplatz... Niemand. Aber gut!"
Niemand keuchte vor Aufregung. Er wusste gar nicht mehr, wie das Innere einer Wohnung aussah. Lange lief er neben ihr her.
Anastasia ging zu einem Gebäude, machte mit einem Schlüssel die Tür auf, lief schnell eine Treppe hinauf und blieb vor einer roten Tür stehen. Als Niemand neben ihr stand, öffnete sie auch diese Tür und trat ein. Niemand folgte ihr mit heißem Atem.
Anastasias Wohnung war sehr schick eingerichtet. In einer Ecke stand ein schwarzes Sofa mit modernen Kissen. Daneben stand eine grüne Topfpflanze in einem schwarzen Topf. In einer anderen Ecke stand eine coole Lampe mit rotem Licht. Neben der Lampe stand ein kleiner schwarzer Tisch, auf dem Gläser standen. Den Inhalt konnte Niemand nicht erkennen, er war sehr trüb und die Farbe schwer zuzuordnen.
Die Wände waren dunkel gestrichen.
Niemand fragte sich, woher Anastasia wohl das Geld für die vielen coolen Sachen hatte... Einem Job ging sie bestimmt noch nicht nach, sie war ja noch nicht erwachsen.
Anastasia setzte sich auf die Couch und forderte Niemand mit einem Blick in die Richtung des Tischs mit den Getränken auf, den Tisch zur Couch zu schieben.
Niemand gehorchte.
Anastasia lehnte sich zurück. "Komm doch mit auf die Couch", sagte sie.
Als Niemand fertig damit war, den Tisch mit den trüben Getränken zur Couch zu schieben, setzte er sich ein wenig unsicher neben sie.
"Warum bist du unsicher?", fragte Anastasia direkt.
Niemand fühlte sich sehr unwohl. Was sollte er tun? Und vor allem: Was sollte er sagen?
...Anastasia rückte ein Stück näher zu Niemand.
Niemand fühlte sich beobachtet und verkroch sich in eine Ecke des Sofas.
Anastasia fing an zu reden: "Niemand, so heißt doch kein Mensch... Was für ein Name, das gibt's doch nicht. Wirklich komisch. Was haben sich deine Eltern denn dabei gedacht? Hm, Niemand?"
Niemand machte sich so klein wie möglich. "Nein... Sie... Ich weiß nicht... Sie haben mich nicht Niemand genannt. Das... Alle nennen mich so..."
"Wie heißt du dann?", fragte Anastasia. "Du wirst doch wohl einen richtigen Namen haben. Ich muss dich ja irgendwie nennen!"
Niemand schüttelte den Kopf und presste die Lippen aufeinander. Er fühlte sich eingeengt und ausgefragt. Verzweifelt kniff er die Augen zusammen.
"Wie?", fragte Anastasia aufdringlich und beugte sich über seinen Kopf.
"Ich weiß es nicht", presste Niemand hervor.
Anastasia gab Niemand eines der Gläser. Aus dem anderen trank sie einen großen Schluck. "Und jetzt du!" Ihre Stimme wurde immer lauter.
Niemand probierte zögerlich das Getränk. Es schmeckte seltsam und süß.
"Na?", fragte Anastasia.
Niemand antwortete nicht und trank noch einen Schluck.
"Naaaa?"Anastasia beobachtete Niemand.
Niemand war die Situation sehr unangenehm. "Äh... Lecker."
"Und wenn es gut schmeckt, willst du dann trotzdem nichts trinken?", fragte sie laut und schien enttäuscht.
Niemand wollte antworten, aber sie nahm ihm schon mit Schwung das Glas aus der Hand und führte es an ihren eigenen Mund. "Na gut! Dann..." Sie leerte es in einem Zug und stellte es klirrend wieder auf den runden schwarzen Tisch. Lässig winkte sie mit der Hand, um Niemand zu bedeuten, er solle den Tisch wieder wegschieben. Ihr Nagellack blitzte auf.
Als Niemand ihrer stummen Aufforderung gehorchte, wurde ihm bewusst, wie müde er eigentlich war. Er unterdrückte ein Gähnen und setzte sich auf das kleine Sofa, das eigentlich wahrscheinlich eher für eine Person als für zwei gemacht war. Anastasia hatte sich in der Mitte breitgemacht und ließ ihm kaum Platz. An den Rand gequetscht saß er dort also und betrachtete mit müden Augen den dunklen Raum. Dass Anastasia ihn einengte, bemerkte er fast gar nicht, so müde war er. Sie konnte nichts dagegen tun, dass er bald darauf einschlief. Als sein leises, langgezogenes Atmen zu einem ruhigen Schnarchen wurde, stand sie von der Couch auf und räumte die leergetrunkenen Gläser weg. Dann lockerte sie ihre Frisur, schminkte sich ab und zog sich aus.
Schließlich verschwand sie im Nebenzimmer.
So verging die Nacht.


Als Niemand aufwachte, wunderte er sich zunächst über seinen Schlafplatz. Er griff nach seiner Trommel und sah sich um. Dann fiel ihm Anastasia wieder ein. Wer war sie, diese mysteriöse Verführerin? Woher kam sie?
"Aus Russland", sagte Anastasia stolz, als der Junge sie das fragte, was ihm duch den Kopf schoss. "Ich wurde in Moskau geboren.", fügte sie stolz hinzu und schwenkte so selbstzufrieden den Kopf, dass ihre blonden Locken über ihre Schulter schwappten.
Sofort dachte Niemand daran, dass er nicht wusste, woher er kam und wo er geboren wurde. Wie er eigentlich hieß, wer seine Eltern waren, wer er hätte sein können. Wer er war...: Niemand.
Anastasia legte Niemand einen Arm um die Schulter, als hätte sie seine Gedanken erraten. 
Niemand betrachtete das Sofa, auf dem er saß, genau. Dann wanderte sein Blick zu Anastasia. Sie hatte blonde, lange Haare, die durch künstliche Dauerwelle gelockt waren. Ihre Augen waren viel größer und schöner als Niemands und hatten ein eisiges Blau. Ihre Nägel waren wieder rot glitzernd lackiert, ihr Mund rot geschminkt... Ihr ganzes Gesicht war geschminkt.
Sie trug das enge rote Kleid und schwarze hochhackige Schuhe.
Wieder einmal fiel Niemand auf, wie schmutzig und abgenutzt seine eigene Kleidung war. Hoffentlich hatte er auf Anastasias schickem teurem Sofa keine hässlichen braunen Schmutzflecken hinterlassen! Er stand schnell auf und sah nach. Zum Glück war das Sofa noch sauber.
"Wollen wir wieder nach draußen gehen, wie gestern?", fragte sie. "Zum Berg?"
Niemand nickte, so heftig er konnte. In Anastasias Wohnung fühlte er sich nicht wohl.
"Ja, natürlich", sagte Anastasia und lächelte wieder so gekünstelt zuckersüß. "Wenn du das so dringend willst..." Ihr entfuhr eine gekünstelte Mischung aus Lachen und Kichern.
Die beiden gingen wieder zu dem Berg.
Die frische Bergluft tat Niemand sehr gut. Froh kraxelte er zu seinem Platz, auf dem er gesessen hatte. Er trommelte fröhlich auf seiner Trommel herum und wartete auf Anastasia. Er mochte die stickige Luft in Anastasias Haus nicht.
Anastasia setzte sich wieder auf den Stein auf der Spitze. Und Niemand schaute zu ihr empor, wie er es gestern schon getan hatte. In seinem Blick lag etwas, das ausdrückte, wie fasziniert er von ihr war - und wie schlecht er glauben konnte, was hier alles geschah.
Aber es war die Realitaät, Anastasia existierte...
Er seufzte, als er an das Leben dachte, das er geführt hatte, als sie noch nicht da gewesen war. Sie hatte sein leben grundlegend verändert... und er wusste nicht, ob es eine gute Veränderung war. Jedenfalls konnte er sie nicht mehr rückgängig machen, er war ein Gefangener von Anastasias Bann.
Sie lächelte kalt... fast grausam..., aber auch zuckersüß, wie gerade eben.
Niemand sah ihr direkt in die Augen. Und plötzlich sah er darin... die Härte Sibiriens... den Baikalsee... den silbern schimmernden Schwanz einer Nixe!
Niemand zitterte. Die Nixe in Anastasia hatte ihm eine starke Angst eingeflößt, fast stärker als die Angst vor dem Tod. Er versuchte, sich mit Anastasias Schönheit zu beruhigen. Sie war so schön wie... wie... eine Nixe! Das Bild der Nixe wurmte ihn einfach und ließ ihn nicht mehr los. Er zitterte am ganzen Körper. Er sah Anastasia noch einmal an, dann ertrug er sie nicht mehr. Die Begegnung mit ihr war nicht gut für ihn gewesen. Jetzt kannte er die Nixe - und würde vermutlich lebensänglich Angst vor ihr haben.
Er konnte Anastasia nicht anschauen, ohne gleichzeitig die Nixe in ihr zu sehen. Er brauchte sich nur vorzustellen, ihre Fingernägel wären lang und ihre Locken natürlich, sie würde das rote Kleid nicht tragen und hätte einen silbern schimmernden Schwanz. Er kniff die Augen zu, hielt entsetzt seine Trommel fest und rannte, mit bis zum Hals springendem Herzen, vor ihr und ihrer Schönheit davon.

"Tschüs, Niemand", rief Anastasia ihm noch nach. Als er nicht mehr zu sehen war, lächelte sie zufrieden und... ja, und grausam. Sie hatte das grausame Lächeln einer Nixe.

*** 

Niemand setzte sich bibbernd und völlig unter Schock stehend auf die Mauer und umklammerte fest seine Trommel. Nie wieder würde er Anastasia so tief in die Augen schauen. Er hatte eindeutig zu viel gesehen. Wahrscheinlich würde sie ihn noch bestrafen, weil er die Nixe in ihr gesehen hatte... Wer weiß, sie war zu allem fähig. Wie die Nixen es eben waren. Nixen waren nämlich immer zu allem fähig. Bei ihnen konnte man nie wissen. Aber Niemand konnte sich eben nicht mehr aus Anastasias Bann befreien, das war das Problem. Sie hatte ihn jetzt verführt, wie die Nixen es eben taten, und er war gefangen. Sie hatte ihn in ihrer Gewalt und konnte nun alles tun mit ihm, was sie wollte. Wahrscheinlich würde sie ihn irgendwann... Niemand konnte nicht mehr weiterdenken. Es war, als würde Anastasia nicht wollen, dass er weiterdachte, und sein Gehirn konnte keine Gedanken mehr zu diesem Thema produzieren. Niemand schüttelte sich und dachte an etwas anderes, um sich abzulenken. Er dachte an die Schule. Ja, die Schule war ein gutes Thema. Mit ihr konnte man sich wirklich gut ablenken. Dort gab es allerlei ablenkende Sachen: strenge Lehrer, anstrengende Fächer wie Sprache (Vor allem in Rechtschreibung war Niemand gar nicht gut), Sport (Auch dieses Fach war nicht gerade Niemands Lieblingsfach), Mathematik (Niemand verstand nicht, wie die ganzen Schüler alle solche Superhirne und Mathe-Genies sein konnten), Musik (Niemands Stimme war die schlechteste von allen) und andere Sachen wie das eklige Essen in der Schulmensa. Niemand hätte bestimmt noch gerne viel, viel mehr Sachen aufgelistet, die ihm zu der Schule einfielen, doch dazu war er einfach zu müde. Er legte sich hin, bettete den Kopf auf seiner Trommel, und versuchte, zu schlafen, obwohl es erst später Morgen war. Trotzdem konnte er einschlafen, denn der Schreck mit der Nixe hatte ihn müde gemacht.

Niemand hatte eine Weile geschlafen, da schrickte er plötzlich aus dem Schlaf. Er hatte einen Albtraum von seiner Lehrerin Frau Funzel-Reinmann geträumt, die sich in die Anastasia-Nixe verwandelt hatte und war in seiner Aufregung schweißgebadet aufgewacht. Er rappelte sich auf und atmete tief durch. Das war alles nur ein Traum. Trotzdem wurde sein Gehirn den Albtraum so schnell nicht wieder los. Mit Schaudern sah er seine Lehrerin noch vor sich, wie sie sich plötzlich in die Nixe verwandelte: Ihre Fingernägel wurden plötzlich einen Meter lang, blutrot und spitz wie Messer, ihre Zähne wurden zu blutigen Vampirzähnen, ihr strenges, ernstes Gesicht wurde zu dem schönen, geschminkten, von den blonden Locken einer russischen Nixe umkränzten Gesicht Anastasias, und ihre Beine wurden zu einem silbernen Nixenschwanz.
Niemand trommelte wie wild auf seiner Trommel herum und starrte ängstlich in die unendlich scheinende Schwärze, die ihn umgab. Aber warum war es so dunkel? Niemand erfuhr es nicht, aber eigentlich war es noch gar nicht Morgen, als er aufgewacht war. Er war mitten in der Nacht in Anastasias Haus aufgewacht, und es war noch Nacht! Er hatte fälschlicherweise mit dem Morgen gerechnet. Über dem Berg war zufällig der Mond gewesen, deshalb hatte es Licht gegeben. Und deshalb hatte Niemand die Nixe sehen können. Als er sich von seinem ersten schlimmen Schock erholt hatte, fasste er den Beschluss: Morgen würde er zur Schule gehen! Er musste sich unbedingt ablenken. Tapfer überstand er seine Angst und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch er konnte nicht mehr einschlafen. Mehrmals wäre er fast eingeschlafen, doch immer kam im ungünstigsten Moment das Bild von Anastasia als Nixe wieder. Sie war so schön und doch grausam durch ihre Schönheit. Sie war grausam, wie es alle Nixen waren. Zuerst verführten sie einen, und als er schon völlig abhängig von ihr war und sie meinte, er sei nicht mehr nützlich (aus welchen Grund auch immer er nützlich sein könnte, aber diese Frage war eine von denen, die Niemands Denkkraft überstiegen, deshalb konnte er sie nicht beantworten), dann... dann... Auch das konnte Niemand nicht herausfinden. Er strengte sich so doll wie möglich an, die Barriere in seinem Gehirn zu durchbrechen, doch ihm kam nichts in den Sinn, was die Nixen dann tun könnten. Trotzdem strengte er sich immer noch an und versuchte, zu denken, bis er plötzlich das Gefühl hatte, sein Kopf würde rauchen und sein Gehirn würde jede kleinste Form von Gedanken zersplittern. Etwas benommen und sich nicht mehr darüber im Klaren, was gerade eben geschehen war, legte sich Niemand auf die Mauer und starrte in die Nacht. Als er wieder klar denken konnte und das Gefühl hatte, sein Kopf hatte aufgehört zu rauchen, dachte er noch einmal daran, dass er sich vorgenommen hatte, morgen in die Schule zu gehen, und schlief schließlich glücklich, wieder normal denken zu können und gerade nicht von dem Traum von Anastasia als Nixe verfolgt zu werden und erschöpft ein. Sein Körper erholte sich und Niemands Gehirn musste so viele Gedanken, Eindrücke und Emotionen verarbeiten, dass es ihn glücklicherweise mit Träumen in Ruhe ließ und er friedlich und ohne Träume schlafen konnte.

Der Wind blies pfeifend über seinen Kopf hinweg.

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