1: Niemand

Niemand.

So nannten ihn immer seine Schulkameraden, weil niemand wusste, wozu er gut war. Seinen eigentlichen Namen kannte er nicht mehr, und deshalb hieß er Niemand. Seine Lehrer akzeptierten das nicht, aber da er sowieso meistens die Schule schwänzte, fiel ihnen meistens gar nicht auf, dass er existierte. Statt in der Schule zu sein, saß Niemand meistens auf der Mauer und trommelte auf seiner Trommel herum. Das sah zwar ziemlich komisch oder altmodisch aus, aber er war ja auch komisch. Komisch und, vielleicht, altmodisch. Wegen der Trommel. Er wusste, dass er niocht zu den Normalen gehörte. Aber er begriff nicht ganz, warum. Er konnte nichts dafür. Und vielleicht würde er den Grund nie erfahren.
Seine Eltern hatte Niemand irgendwo verloren und niemand hatte ihn adoptieren wollen. Vielleicht hatte er seine Eltern auch gar nicht verloren. Es konnte alles mögliche mit ihnen passiert gewesen sein. Es bestand die Möglichkeit, dass sie kurz nach der Geburt gestorben waren oder ihn auf die Straße gesetzt hatten - alles war möglich, aber er wusste nicht, was wahr war.
So schlief er meistens allein auf der Mauer und seine Trommel diente ihm als Kopfkissen. In der ganzen Zeit, wo er alleine lebte, hatte er vergessen, wie seine Eltern hießen und aus welchem Land sie kamen. Er wusste nur noch, dass sie aus Asien kamen, denn er sah so aus. Die meisten vermuteten, er komme aus China, Taiwan, Japan, Korea oder der Mongolei.
Er konnte sich eigentlich überhaupt nicht an seine Eltern erinnern. Und eine lange Zeit lang hatte er gar nicht gewusst, dass es so etwas gab. Allgemein kannte er den Alltag der "normalen" Menschen kaum und viele moderne Geräte kamen ihm sinnlos und befremdlich vor.
Tag für Tag saß Niemand auf der Mauer und trommelte und trommelte. Sein Trommeln war weder rythmisch noch melodisch, doch es war das einzige, was er gut konnte. Sportlich war er nicht, gut singen oder ein Instrument spielen konnte er auch nicht, und schreiben konnte er sowieso fast gar nicht. Er war ein Fast-Analphabet - und das ist eindeutig altmodisch. Lesen und schreiben sollte man in einem zivilisierten, entwickelten Land, eigentlich können, normalerweise war und ist das eine Selbstverständlichkeit, aber der lausige Niemand war anders als die anderen, und deshalb mochte man ihn nicht.
Viele Leute, die an ihm vorbeiliefen, rümpften angeekelt die Nase, warfen ihm böse, kritische oder misstrauische Blicke zu oder sahen schnell weg und liefen hastig weiter. Nur wenige besonders gnädige warfen ihm ein paar Centmünzen zu. Manchmal gaben ihm Leute sogar etwas zu essen.
Der Teenager philosophierte viel vor sich hin, bensonders traurig oder depressiv machte ihn sein Schicksal nicht. Es wunderte ihn bloß.
Er trug eine große braune Mütze, ein graues, viel zu großes T-Shirt, eine blaue schmutzige Schlabberjeans und löchrige Nike-Schuhe. Er hatte schwarze, strubbelige Haare; vielleicht wohnten in ihnen sogar Läuse, das konnte man wegen der Mütze nicht so genau sehen. Seine Augen waren klein und braun, seine Nase klein uns platt. Er hatte eine nicht besonders gute, aber auch nicht besonders picklige Haut und einen kleinen, blassen, schmalen Mund. Alles in allem, Niemand war ein überhaupt nicht schöner, sogar sehr hässlicher und lausiger Junge. Dafür war er aber ziemlich brav und machte selten Quatsch. Außerdem sah er nich besonders gefährlich oder bedrohlich aus, nur eben sehr schmuddelig. Hätte er Eltern und könnte sich jeden Tag Haare und Gesicht waschen und sich vernünftig anziehen, würde er einen guten, ordentlichen Schüler abgeben.
Manchmal, ganz selten, ging er sogar zur Schule, aber auch nur dann, wenn er wirklich riesige Lust dazu verspürte. Meistens verspürte er sie aber nicht und blieb einfach auf der Mauer.

Es war Oktober, der Wind wirbelte buntes Laub auf. Niemand saß wieder mal auf der Mauer und trommelte.
Plötzlich kam eine Gruppe von Jugendlichen mit Bierflaschen auf ihn zu.
"Ah, Niemand!", sagte der bedrohlichste von ihnen. Niemand erkannte ihn. Er war Baris, einer seiner "Klassenkameraden".
Der Klassenkamerad gab den anderen ein Zeichen, dann stürzten sie sich auf Niemand und versuchten, ihn in den See zu schubsen.
Doch Niemand hielt stand. Er war es schon gewohnt, abends von betrunkenen (oder auch nicht betrunkenen) jungen Männern fast ertränkt zu werden, deshalb konnte er sich gut wehren.
Die Klassenkameraden machten sich grummelnd aus dem Staub.
Niemand trommelte weiter. Als die Nacht anbrach, trommelte er immer noch weiter. Schließlich legte er sich auf die Mauer und schlief ein.

Er ahnte nicht, dass sich sein Leben am nächsten Tag stark verändern würde...

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